14.06.2025

Taiwan Today

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Koloniale Wunden

01.01.2003
Das Medizinkolleg der NTU gehörte ursprünglich zur Kaiserlichen Universität Taihoku und war von den Japanern im typischen Kolonialstil gebaut worden.

Die Japaner, die Taiwan 50 Jahre lang besetzt hielten, haben viele Aspekte des modernen Taiwan beeinflusst, etwa Landwirtschaftstechniken, die industrielle Entwicklung oder das Schulsystem. Doch obwohl es sich um eine facettenreiche Geschichte handelt, haben die einheimischen Gelehrten diese wichtige Periode bisher immer noch nicht gründlich genug erforscht.

In den Buchläden der ganzen Insel sitzen Kinder und blättern in japanischen Comics. Im Fernsehen sind japanische Programme beliebt. Und japanische Musiker spielen nicht nur den Pop, den Taiwans Teenager so gern hören, sondern prägen auch die Haarmode, Bekleidungsgewohnheiten und die Umgangssprache. Das ist der hajihfeng -- die Japanwelle, die wie eine Tsunami(哈日風) über Taiwan hinwegfegt. Die Vorliebe für Japanisches ist zum Teil eine Folge der Globalisierung, hängt aber auch damit zusammen, dass Japan als reichstes Land Asiens ein Modell zur Nachahmung wurde.

Im Buchladen um die Ecke findet man jedoch auch Zeugnisse für eine ältere Verbindung Taiwans mit Japan, eine Invasion im wörtlichen Sinne und die darauf folgende 50-jährige Besatzung. Für die Anhänger des Hajihfeng ist das graue Vorzeit, doch für Historiker ist die japanische Kolonialzeit (1895-1945) immer noch eine der umstrittensten Phasen in Taiwans Geschichte, und ihre Erforschung hat gerade erst begonnen.

Die japanische Besetzung Taiwans begann am 17. April 1895 mit der Unterzeichnung des Vertrages von Shimonoseki, der den Chinesisch-japanischen Krieg (1894-1895) formell beendete und in dem das Qing-Reich Taiwan und die Pescadoren-Inselgruppe (Penghu) an Japan abtreten musste. Nach der Unterzeichnung des Vertrages versuchten einige Bewohner Taiwans den Qing-Hof zu überreden, Taiwan von den Japanern zurückzuverlangen. Andere Bürger, nämlich Taiwans Gouverneur Tang Ching-sung (唐景崧,1841-1903), Liu Yung-fu (劉永福,1837-1917) und Chiu Feng-chia (丘逢甲,1864-1912), erklärten Taiwan für unabhängig und riefen eine Republik aus in der Hoffnung, damit internationale Sympathien zu gewinnen und die Japaner davon abzuhalten, sich auf der Insel niederzulassen. Diese Versuche scheiterten jedoch, und bald traf das japanische Militär ein, um die Kriegsbeute in Besitz zu nehmen.

Die japanische Kolonialzeit kann grob in drei Phasen eingeteilt werden -- die Anfangsphase der Besetzung von 1895 bis 1919, Versuche einer forcierten Assimilierung von 1919 bis 1937 und schließlich die Kriegsjahre 1937-1945, die mit Japans Niederlage im Zweiten Weltkrieg endeten. In der ersten Phase musste die japanische Armee den bewaffneten Widerstand der einheimischen Bevölkerung, besonders der Ureinwohner, brechen sowie das koloniale Verwaltungssystem aufbauen. Die im Juni 1895 auf Taiwan landenden japanischen Truppen stießen zunächst auf starken Widerstand, der dann jedoch angesichts der militärischen Übermacht der neuen Herren schnell zusammenbrach; ohnehin mangelte es den Rebellen an Waffen und Munition. Nichtsdestotrotz war der Blutzoll hoch -- rund 7000 taiwanische Soldaten ließen ihr Leben, und die zivilen Opfer gingen ebenfalls in die Tausende. Zwanzig Jahre später, im Jahre 1915, brach im heutigen Landkreis Tainan eine weitere, von hartgesottenen Widerständlern um Yu Qing-fang (余清芳,1879-1915) angeführte Revolte aus, die unter der Bezeichnung “Tapani-Zwischenfall”(噍吧哖事件)in die Geschichtsbücher einging und ebenfalls mehrere tausend Taiwaner das Leben kostete. Der Tapani-Zwischenfall (auch unter der Bezeichnung “Hsilai-an-Nonnenklosteraufstand”西來庵事件 bekannt) war der letzte große Aufstand gegen die japanischen Besatzer. Freilich gab es auch später noch gelegentlichen Widerstand, besonders in abgelegeneren Teilen der Insel.

Der Widerstand konnte die Japaner nicht daran hindern, auf Taiwan ihre Kolonialverwaltung einzurichten und strenge Polizeikontrollen zur Verhütung von Gesetzlosigkeit zu verhängen. In den frühen Jahren der japanischen Herrschaft machten die Besatzer sich auch daran, ihre neue Kolonie zu erfassen und zu katalogisieren. Sie führten gründliche Landvermessungen und Wohnsitzerfassungen durch, monopolisierten bedeutende Produkte wie Salz und Zucker, sammelten in Volkszählungen Zensusdaten und führten eine völkerkundliche Studie über die Ureinwohner der Insel durch.

Bei ihrer Verwaltung Taiwans, besonders in weiter von administrativen Zentren entfernten Gebieten, respektierten die Japaner die örtlichen Sitten und Gebräuche und stellten in lokalen Behörden gelegentlich auch Taiwaner ein. “Im Grunde genommen verfolgten die Japaner eine sehr flexible Politik”, charakterisiert Wu Wen-hsing, Geschichtsprofessor an der Pädagogischen Hochschule Taiwans. “Sie reagierten auf lokale Situationen und nahmen entsprechende Anpassungen vor.”

Nach Ansicht einiger Gelehrter entstand diese Flexibilität aus der Hoffnung der Japaner, Taiwan auf Dauer mit dem japanischen Kaiserreich zu verschmelzen. Außerdem haben manche asiatische Länder wie beispielsweise China, Japan und Korea ein ähnliches Kulturerbe und können einander daher leichter “akzeptieren”, sagt Chung Shu-min, Wissenschaftlerin am Vorbereitungsbüro für das Institut für taiwanische Geschichte der Academia Sinica. “Taiwan war ein Sondergebiet mit Sondergesetzen, und die Taiwaner wurden anders als die Japaner in Taiwan behandelt, aber das war nur als Übergangsphase gedacht. Langfristig wollte Japan die Taiwaner zu Japanern machen, und Taiwan sollte eine Erweiterung des japanischen Territoriums unter der gleichen Verfassung wie das Mutterland darstellen.”

Während der zweiten Hauptphase der japanischen Kolonialzeit -- von 1919 bis zur japanischen Invasion in China 1937 -- versuchten die Japaner, Taiwan für die Integration in das japanische Kaiserreich zu assimilieren. Sie erließen japanische Gesetze, ordneten eine Schulpflicht nach japanischem Muster an und versuchten die lokalen Sprachen und Dialekte durch die japanische Sprache zu verdrängen. Die Taiwaner wurden ermuntert, ihre Herkunft durch das Annehmen japanischer Namen, das Tragen japanischer Kleidung, das Essen japanischer Kost und die Übernahme religiöser Rituale aus Japan zu verleugnen.

In dieser Periode förderten die Japaner auch Taiwans Wirtschaftsentwicklung, die flott voranging. Als Kolonie sollte Taiwan Profit abwerfen, und zur Stimulierung der Wirtschaftsentwicklung bauten die Japaner Taiwans Infrastruktur aus -- die Elektrifizierung breitete sich aus, das Schienennetz wurde erweitert, man baute Brücken und modernisierte Häfen. Japanische Ingenieure bauten über 8000 Kilometer Eisenbahnstrecken und Landstraßen, und zur besseren Bewässerung und für die Stromerzeugung errichteten sie Betondämme und Stauseen. Daneben führten sie ausgedehnte Forschungen für die landwirtschaftliche Entwicklung durch und konnten so die Agrarerträge steigern. Die Japaner verbesserten außerdem das Gesundheitssystem, das Bank- und das Bildungswesen. Mit ihren Bemühungen konnten sie die Analphabetenrate senken, auch wenn die Schüler während der japanischen Kolonialzeit oft nur das Japanische lesen und schreiben konnten, nicht ihre Muttersprachen.

Ins Kolonialmodell passte zudem die Hoffnung der japanischen Regierung, dass Taiwan zum Abnehmer für Fertigprodukte aus Japan werden und Wohnraum für Aussiedler aus dem zunehmend überbevölkerten Mutterland bieten würde. Auf der anderen Seite betrachtete Japan Taiwan auch als Trittstein für die aggressiv betriebene Eroberungspolitik nach Südostasien (“Nanshin”南進). Um die Insel auf diese Rolle in der militärischen Expansion vorzubereiten, konzentrierten die Japaner sich bei ihrem Industrialisierungsprogramm auf die Entwicklung strategischer Industrien, etwa Chemie, Metallverarbeitung und Schiffbau.

Der Ausbruch des Chinesisch-japanischen Krieges mit dem Zwischenfall an der Marco-Polo-Brücke(蘆溝橋) in Peking am 7. Juli 1937 leitete die dritte und letzte Phase der japanischen Besetzung Taiwans ein, die mit der Niederlage der Japaner im Zweiten Weltkrieg 1945 ihr Ende fand. Während die Schwerindustrie, landwirtschaftliche Produktion und andere taiwanische Güter zur Versorgung der japanischen Kriegsmaschine verwendet wurden, unternahmen die Kolonialherren neue Anstrengungen, um die Treue der Taiwaner zu Japan und ihren Kriegszielen zu gewährleisten. “Japan brauchte für den Krieg mehr Soldaten, also wurden in der Kolonie welche rekrutiert”, enthüllt Chung Shu-min von der Academia Sinica. “Den Taiwanern wurde gesagt, wenn sie gleichberechtigt mit den Japanern behandelt werden wollten, dann müssten sie erst dem japanischen Kaiser Treue schwören und bereit sein, für ihn Opfer zu bringen.” Taiwan selbst blieb von den Verwüstungen des Krieges größtenteils verschont, abgesehen von ein paar alliierten Bombardements gegen Kriegsende. Immerhin mussten 200 000 taiwanische Männer in Japans Armee Dienst leisten, und zahlreiche taiwanische Frauen wurden als so genannte “Trostfrauen” (慰安婦,engl. comfort women ) vom japanischen Militär unter unmenschlichen Bedingungen als Sexsklavinnen gehalten. Viele von ihnen kehrten nie zurück.

Nach der japanischen Niederlage und dem vollständigen Abzug der Japaner aus Taiwan konnten die Inselbewohner Bilanz ziehen und eine Bestandsaufnahme der Veränderungen machen, die sich in ihrer Gesellschaft unter der japanischen Herrschaft ereignet hatten. Von einem wirtschaftlichen Standpunkt aus gesehen hatten die Japaner Taiwan mit Erfolg in eine Gesellschaft umgewandelt, die im Vergleich mit den Nachbarn recht modern war.

Tatsächlich hatten viele der japanischen Infrastrukturprojekte schon vor der Kolonialzeit begonnen, doch es war die Kolonialverwaltung, die sie systematisch ausführte. Über einen Zeitraum von 30 Jahren (1905-1935) wuchs beispielsweise die Anbaufläche für Zuckerrohr um 500 Prozent, und der Ertrag stieg gewaltig an. 1939 war Taiwan der weltweit siebtgrößte Zuckererzeuger. Nach den Worten von Wu Wen-hsing sollte die koloniale Wirtschaftsentwicklung in erster Linie Japan zu Gute kommen, doch sie verlieh Taiwan eine stabile Grundlage für die zukünftige Entwicklung. “Das zuzugeben bedeutet nicht, dass man alles Lob den Japanern zollt, denn sie waren ja einfach nur das Medium für die Weitergabe der Modernisierung an Taiwan, was Japan selbst vom Westen gelernt hatte. Es waren die flexiblen und aufgeschlossenen Menschen, durch die Taiwan das Gute aufnehmen und das Schlechte verwerfen konnte.”

Der wirtschaftliche Erfolg kam die Taiwaner indes teuer zu stehen. Während der 50-jährigen Kolonialzeit wurde den Taiwanern Selbstverwaltung verwehrt, und sie wurden aus Spitzenpositionen in allen Bereichen der Gesellschaft ausgeschlossen. Die Taiwaner hatten es schwer, unter dem Druck der aufoktroyierten japanischen Kultur ihre eigene Identität zu bewahren. Die einheimischen Dialekte, Sitten und Gebräuche wurden nicht gefördert und chinesischsprachige Schulen geschlossen. Man lehrte die Menschen, sich selbst als Japaner und nicht als Taiwaner zu betrachten. Zwar wird das von den Japanern geschaffene Bildungssystem von manchen gelobt, doch andere betrachten die ganze Epoche mit Abscheu. “Der Zweck der kolonialen Erziehung bestand darin, die Taiwaner ihrem eigenen Kulturerbe zu entfremden und sie zu Japanern zu machen”, geißelt Wang Hsiao-po, Philosophieprofessor an der National Taiwan University (NTU). “Die 50 Jahre Kolonialherrschaft konnten die Taiwaner zwar nicht zu Japanern machen, doch sie reichten aus, um viele Taiwaner zu Nicht-Chinesen zu machen.”

Abgesehen von der schwierigen Frage der Identität glauben heute viele Taiwaner, dass die Japaner die taiwanische Gesellschaft auch in positiver Weise beeinflussten. Manche sind zum Beispiel der Auffassung, dass die von der japanischen Kolonialverwaltung verhängten strengen Gesetze Taiwan zu einem gesetzestreuen Land mit relativ niedriger Verbrechensrate machten. “Ob aus Furcht oder aus anderen Gründen, sie machten die Taiwaner zu gesetzestreuen Bürgern, weil sie die Konsequenzen für Gesetzesverstöße nicht zu tragen vermochten”, meint Chung Shu-min.

Die Japaner verlangten auch Pünktlichkeit, und nach Ansicht mancher Taiwaner ist dieses Merkmal heute noch auf der Insel zu finden. “Auf Taiwanisch berechnet man die Verspätung eines Zuges in Minuten, auf Chinesisch in Stunden”, vergleicht Wu Wen-hsing. “Das trifft ziemlich genau die unterschiedlichen Auffassungen über Pünktlichkeit in China und Taiwan.”

Nach der Niederlage der Japaner 1945 geriet Taiwan unter die Kontrolle der nationalistischen Regierung Chinas. Zentraler Punkt ihrer Politik war die Entjapanisierung und die Re-Sinisierung der Insel durch Betonung der chinesischen Identität, Kultur, Sprache und Geschichte. Diese Politik wurde nach der Verlegung der Zentralregierung der Republik China vom Festland nach Taiwan 1949 intensiviert.

Das Hauptziel der von der Kuomintang (KMT) eingesetzten Regierung zu jener Zeit war der Aufbau einer Basis zur Rückeroberung und Wiedervereinigung des chinesischen Festlandes, das seit dem Ende des chinesischen Bürgerkrieges von den Kommunisten beherrscht wird. Diese Chinaorientierung schlug sich auch in der Bildungspolitik nieder. In den Geschichtsbüchern, die von der Grundschule bis zur Universität verwendet wurden, ging es vornehmlich um chinesische Geschichte, während Taiwan nur am Rande behandelt wurde, denn die Geschichte der Insel galt als kurz und periphär im Vergleich zur Jahrtausende alten chinesischen Zivilisation.

Unter der KMT-Regierung wurde außerdem Japan geschmäht, und oft passten Akademiker ihre Forschungsthemen so an, dass sie dem politischen Zeitgeist entsprachen und nicht mit den Zensurgesetzen in Konflikt kamen. Es war zum Beispiel politisch korrekt, über den Widerstand der Taiwaner gegen Japan zu schreiben, aber nicht über die wirtschaftlichen Erfolge Taiwans unter der Leitung der japanischen Kolonialherren. “Man kann es schon verstehen, dass nach acht Jahren Krieg das festlandchinesische KMT-Regime auf alles Japanische nicht gerade versessen war”, urteilt Wu. “Doch diese Ideologie erschwerte es der Regierung, eine akademisch ausgewogene Interpretation der japanischen Herrschaft auf Taiwan zu ermutigen.”

Erst als nach dem Tod Chiang Kai-sheks (蔣介石,1887-1975) in den späten siebziger Jahren soziale und politische Lockerungen auf Taiwan einsetzten, wurden die Gelehrten ermuntert, die bisher vernachlässigten Geschichtsphasen neu zu betrachten. Glücklicherweise hatte die KMT-Regierung die meisten von den Japanern hinterlassenen historischen Dokumente aufbewahrt, und viele von ihnen befinden sich nun in der Academia Historica und anderen akademischen Institutionen. Doch bis heute hat die japanische Kolonialzeit bei jungen Akademikern noch keine große Beachtung erhalten. In einer Studie über die Themen von Magisterarbeiten der Bereiche Politik, Wirtschaft, Gesellschaft, Bildung oder Kultur der japanischen Kolonialzeit fand Wu Wen-hsing heraus, dass zwischen 1945 und 2000 auf Taiwan nur 99 solcher Arbeiten verfasst worden waren.

Einer der Hauptgründe für die Unbeliebtheit des Studiums der japanischen Kolonialzeit ist die Tatsache, dass viele der verbliebenen Dokumente von Hand in klassischem Japanisch mit einem besonders schwer lesbaren Kalligrafiestil geschrieben worden waren, so dass man zum Sichten und Interpretieren des Materials gute Sprachkenntnisse und viel Übung benötigt. Nicht viele Historiker verfügen über diese Fertigkeiten, und heute sind nur wenige Studierende bereit, die Mühsal auf sich zu nehmen, sie zu erlernen. Doch trotz dieser praktischen Hindernisse beim Japanischlesen wartet ein reicher Schatz historischer Informationen auf die Gelehrten, die dann schließlich ein besseres Verständnis von der japanischen Kolonialzeit und ihrer Bedeutung für Taiwan werden zeigen können.

“Es gibt noch viele Dinge bei der japanischen Kolonisierung, über die wir nichts wissen, und es muss noch viel Material ausgewertet werden”, weiß Chung Shu-min. “Sicherlich kann man ein historisches Ereignis durch die Anwendung von Theorien bewerten, ohne dass man Japanisch kann, aber die geschichtlichen Fakten können nur mit konkreten Belegen untermauert werden -- also mit historischen Materialien, nicht mit Theorien und Schlussfolgerungen.”

(Deutsch von Tilman Aretz)

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